Die Wallfahrtskapelle auf dem Liescher Berg
Auf der Höhe des Liescher Berges liegt an exponierter Stelle die Löschemer Kapelle. Gleich vor diesem Kulturdenkmal, das als Marienwallfahrtsort viel besucht wird, fällt der Liescher Berg über eine Felswand steil ab. Hier bietet sich Ihnen ein großartiger Panoramablick hinunter ins Mosel- und Saartal, auf den am anderen Ufer der Mosel gelegenen Ort Igel, über die Stadt Konz hinweg bis nach Trier und darüber hinaus. Sogar die St. Matthias Kirche und die Basilika sind zu sehen. Mosel- und Saartal werden hier von den vielfach bewaldeten Höhen dreier Mittelgebirgszüge flankiert. Im Westen blickt man auf den zu Luxemburg gehörenden südlichen Ausläufer der Ardennen, im Norden auf die Eifel und im Osten auf die Erhebungen des zum Hunsrück gehörenden Schwarzwälder Hochwaldes.
Ein Text aus dem 19. Jahrhundert beschreibt die Löschemer Kapelle als einen „Bau von einer Achse, innen 3,0 x 5,80 m groß, mit geradem Chorchluss und flacher Decke, die in den Ecken abgerundet ist, die Front einfach gegliedert, mit Figurennische über dem Rundbogenportal und rundgeschlossenen Fenstern, auf der Mensa eine Steinnische mit Giebelabschluss für ein einfaches Kruzifix; auf seitlichen Konsolen Figuren der Mutter Gottes und des hl. Franziskus.“
Auf der Mensa, dem Altartisch, steht eine Pietà, eine großfigürliche Darstellung Maria’s mit dem Leichnam Jesu Christi auf dem Schoß, wie sie vor allem in katholischen Gotteshäusern „zum Gedächtnis der Schmerzen Mariens“ häufig anzutreffen ist; die Skulptur ist erst im 20. Jahrhundert, vermutlich nach dem Ersten Weltkrieg, hier aufgestellt worden. Die Darstellung einer Pietà findet sich auch als dreizehnte Station des insgesamt aus 14 Stationen bestehenden Kreuzweges Jesu Christi. Sie ist am Kultur- und Orchideenweg als vorletzte Station des „Stationenweges“, etwa 100 m unterhalb der Löschemer Kapelle, zu sehen.
Wie alt ist dieses ehrwürdige Kulturdenkmal?
In seinem Manuskript für eine Chronik von Wasserliesch schreibt im Jahre 1938 ein damaliger Lehrer dazu unter anderem: „Die Kapelle soll ihren Ursprung einem Einsiedler verdanken und zu Anfang des 18. Jahrhunderts erbaut worden sein. Da sie im Laufe der Zeit verfiel, war der schöne Punkt (gemeint ist der exponierte Standort der Kapelle) bald öde geworden. Vor etwa 95 Jahren, nach 1840, wurde sie aus Schutt und Asche aufgebaut und erfreut sich seither wieder des Rufes eines Wallfahrtsortes“.
Heute weiß man Genaueres über das Alter der Löschemer Kapelle und ihren Wiederaufbau Mitte des 19. Jahrhunderts. So gibt das Gesuch der Beigeordneten der Gemeinde Wasserliesch vom 27. April 1846 an „Eine Königliche, Hochlöbliche Regierung zu Trier“ einige Informationen. Darin bitten die Unterzeichner um Übernahme der Kosten in Höhe von 80 Talern für Kunstarbeiten bei der beabsichtigten Wiedererrichtung der Kapelle. Im Text heißt es, die Gemeinde besitze „seit etwa 60 – 70 Jahren auf der Höhe des Berges hinter dem Dorfe eine Kapelle von frommer Stiftung herrührend, worin nicht nur die Einwohner von Wasserliesch, sondern auch jene der Umgebung wallfahrend ihr Gebet verrichteten“. Sie sei seit etwa zwei Jahren ganz verfallen und die Gemeinde habe den Wunsch, „diesen verehrten Wallfahrtsort wiederherzustellen“. Das Schreiben endet mit der heute als merkwürdig empfundenen Höflichkeitsformel: „Eine günstige Entscheidung erflehend haben die Ehre zu sein Eure Königliche, Hochlöbliche Regierung gehorsamsten Diener“. Unterzeichnet ist es von den 24 Beigeordneten der Gemeinden Wasserliesch und Reinig sowie eines Mitunterzeichners aus der Nachbargemeinde Oberbillig.
Die Behörde lehnte die Übernahme der Kosten umgehend ab, obwohl die Antragsteller doch „ehrfurchtsvoll“ darum gebeten und betont hatten, die Einwohner von Wasserliesch seien bereit, „alle Hand und Spanndienste unentgeltlich zu leisten, was gewiss kein unbedeutendes Opfer“ sei, „wenn man berücksichtigt, dass die Kapelle auf dem höchsten Bergpunkt der Umgebung liegt“– so der authentische Text. Man hatte sich sogar erlaubt, nachdrücklich „dahin aufmerksam zu machen, dass die Einwohner von Wasserliesch bisher bei allen Anforderungen seitens der Verwaltung stets eine anzuerkennende Folgsamkeit bewiesen“ hätten und angedeutet, dass die Bereitschaft, „Dienste in der Frohnde“ zu leisten, „Schaden leiden dürfte, wenn der Gemeinde das Gesuch zur Beihilfe bei dem Bau der fraglichen Kapelle abgelehnt bleiben würde“. Es war zweifellos ein Versuch, Druck auf die Behörde auszuüben, doch auch das nützte nichts.
Als Begründung für ihre Ablehnung gab die Behörde an, „der dortige Kirchenbau“ sei „viel nötiger als die Kapelle“. Gemeint war die Erweiterung der auf dem heute nicht mehr existierenden alten Friedhof stehenden Pfarrkirche, die man fünf Jahre später realisierte. Doch trotz der Verweigerung des Kostenzuschusses bauten die Wasserliescher und Reiniger Bürger die Löschemer Kapelle im Jahre 1846 mit eigenen Mitteln und Spenden der Bevölkerung der Nachbarorte wieder auf. Wie der Chronist zu berichten weiß, standen vor dem Wiederaufbau nur noch die Außenmauern, die man beim Wiederaufbau mit verwendete.
Dem Bittschreiben der Gemeindeväter kann man entnehmen, dass die Löschemer Kapelle „von frommer Stiftung herrührend“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Besitz der Gemeinde gelangte. Vorher könnte sie dem Kloster St. Alban in Merzlich-Karthaus, heute Stadtteil von Konz, gehört haben, das Besitzungen in Wasserliesch und Reinig hatte. Im Jahre 1919 wird die Kapelle erstmals in einem Inventarverzeichnis der Pfarrgemeinde erwähnt, ist also hiernach nach dem Ersten Weltkrieg in Kirchenbesitz übergegangen.
Mittlerweile ist sicher, dass die Löschemer Kapelle Anfang des 18. Jahrhunderts erbaut worden ist. Die „Chronik Wasserliesch“ nennt das Jahr 1708 noch als angebliches Baujahr. Einen genauen Hinweis auf den Zeitpunkt ihrer Erbauung liefert der Jahresbericht der „Gesellschaft für nützliche Forschungen zu Trier“ aus dem Jahre 1853. Dieser Bericht enthält einen Artikel mit der Überschrift „Das Lager auf dem Liescher Berge“, in dem die Löschemer Kapelle ausdrücklich erwähnt wird. Das verwundert, weil es zwischen ihr und dem Bericht über das Alte Römerlager keinen sachlichen Zusammenhang gibt. Der Bericht beginnt mit dem Satz:
„Der Wasserliescher Berg, von dem die Bernarduskapelle in das Trierische Thal herabschauet, erhebt sich als Endpunkt des Gebirges zwischen Mosel und Saar zu einer Höhe von mehr als 500 Fuß, mit ringsum sehr steilen Wänden“ und endet mit der Feststellung, die man hier nicht mehr erwartet: „Die Bernarduskapelle trägt das Chronostichon ConseCratVM honorI beatI BernarDI abbatIs (1709)“.
Das „Chronostichon“, auch „Chronodistichon“ genannt, ist ein Chronogramm in lateinischer Sprache und lautet, in Normalschrift: „Consecratum honori beati Bernardi abbatis“, auf Deutsch: „Geweiht zur Ehre des seligen Abtes Bernhard“. Es dokumentiert damit nicht nur, dass die Löschemer Kapelle nach ihrer Errichtung dem heiligen Bernhard geweiht wurde, sondern nennt gleichzeitig ihr Alter in römischen Zahlen, die im Text versteckt sind. Die im Original hervorgehobenen – groß geschriebenen – Buchstaben mit ihren Zahlwerten (C = 100, V = 5, M = 1000, I = 1 und D = 500) ergeben zusammenaddiert das Jahr 1709. Die Löschemer Kapelle ist also, diesem Chronogramm zufolge, im Jahre 1709 geweiht worden, womit das Baujahr 1708 indirekt bestätigt wird. Mit „Bernhard“ ist Bernhard von Clairveaux gemeint, Zisterzienserabt und Kirchenlehrer, der ~1090 geboren wurde und bis zum 20.8.1153 lebte. Leider ist das Chronodistichon, das diese Aussage belegt, in der Kapelle heute nicht mehr vorhanden. Vermutlich wurde es bei Renovierungsarbeiten beseitigt oder überdeckt und ist dann in Vergessenheit geraten.
Die Tatsache, dass die Löschemer Kapelle als „Bernharduskapelle“ ursprünglich dem heiligen Bernhard geweiht war, ist heute nicht mehr allgemein bekannt. Vermutlich hat man es vergessen oder verdrängt, weil hier seit langem die „Schmerzhafte Mutter Gottes“ verehrt wird. Jedenfalls ist sie heute eine „Marienkapelle“. Wann die Marienverehrung begann, weiß niemand, sicher war das nicht von Anfang an der Fall. Vermutlich entwickelte sie sich erst nach dem Wiederaufbau im Jahre 1846. Den Anstoß könnte das von Papst Pius IX. im Jahre 1854 verkündete Dogma der „Unbefleckten Empfängnis“ Mariens gegeben haben, das der Marienverehrung damals weltweit großen Auftrieb gab.
Nach dem Manuskript einer Ortschronik des damaligen Wasserliescher Lehrers Neises aus dem Jahre 1938 ist das Innere der Löschemer Kapelle Ende des 19. Jahrhunderts durch eine Lourdes-Grotte „verschönert“ worden. Die Grotte sei am 20. August 1893 in feierlicher Prozession den Berg hinauf geschafft worden. Heute ist sie nicht mehr vorhanden; wann sie wieder entfernt wurde, ist unbekannt. Jedenfalls wird die Mutter Gottes in der Löschemer Kapelle seit Menschengedenken verehrt. Danktafeln an den Innenwänden und brennende Votivkerzen vor dem Altarbild belegen, dass nach wie vor viele Gläubige hier Hilfe und Trost suchen und finden.
Seit ihrem Wiederaufbau im Jahre 1846 erforderte die Löschemer Kapelle rund 100 Jahre lang, außer einem immer wieder mal fälligen Innenanstrich, keine nennenswerten Unterhaltungsaufwendungen, obwohl unter anderem zwei Weltkriege über sie hinweggegangen sind. Erst 1969/70 war wieder eine durchgreifende Renovierung mit vollständiger Dacherneuerung notwendig. Im Jahre 2003 wurde der Außenbereich mit einem festen Bodenbelag, neuen Treppenstufen, schmiedeeisernen Handläufen und einem ebensolchen Geländer als Abschluss zur Talseite hin neu gestaltet und der Innenraum renoviert.
Bis lange in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hinein – und manchmal auch heute noch – bewältigen wallfahrende Besucher die 200 Höhenmeter von der Talsohle bis zur Löschemer Kapelle, den Rosenkranz betend und Marienlieder singend, meist in kleinen Gruppen zu Fuß, im Wesentlichen auf einem der folgenden drei Wege:
Vom Ortsteil Reinig aus bevorzugte man früher den in der Mundart „Löschemer Piёdchen“ (Pfädchen) genannten Weg. Er zweigte von der Granastraße in Richtung Wald ab, folgte in etwa der Straße „Im Kestenbüsch“, dann dem unteren Weg im Wald, im so genannten „Kopf“. Ab der nach ca. 200 m anzutreffenden Weggabelung bot er den Pilgern zwei Varianten. Die eine, beschwerlichere, aber etwas kürzere, führte an dem auf gleicher Höhe liegenden Buntsandsteinfelsen vorbei, dann als schmaler und steiniger Steig den Berg hinauf, bis er auf halber Berghöhe, ungefähr an der 10. Kreuzwegstation des Stationenweges, in diesen einmündete – diese Variante ist heute nicht mehr begehbar. Die andere Variante mündete von der genannten Weggabelung aus dem Weg nach oben folgend in den Kultur- und Orchideenweg, dann weiter an dem Kriegerehrenmal und dem alten Steinbruch im Wald (siehe dort) vorbei, um wenige Meter oberhalb der erstgenannten Teilstrecke den Stationenweg zu erreichen. Diesen vom Ortsteil Reinig aus zur Löschemer Kapelle führenden Weg konnte und kann man, bei guter körperlicher Verfassung, in ca. einer Stunde bewältigen.
Kürzer, aber steiler und daher beschwerlicher zu begehen, führt der „Stationenweg“ unmittelbar vom Ortszentrum aus direkt zur Löschemer Kapelle hinauf. Hier bieten sich die 14 Kreuzwegstationen als Ruhepunkte und Gebetsstätten an. Wer gut zu Fuß ist und sich in guter körperlicher Verfassung befindet, kann diesen Weg in knapp einer Stunde schaffen. Der Stationenweg sollte allerdings, wie auch der Kultur- und Orchideenweg und die übrigen Wege am Berghang des Löschemer Berges, nur mit geeignetem Schuhwerk begangen werden.
Der „bequemste“ aber längste Weg zur Löschemer Kapelle führt aus dem Ort heraus über die Löschemer Straße den Berg hinauf bis zum Parkplatz „Perfeist“ und von dort aus fast eben, sozusagen den Kultur- und Orchideenweg rückwärts entlang. Früher, noch als Schotterweg ausgebaut, zog man diese Möglichkeit den anderen beiden Wegstrecken nicht unbedingt vor, erforderte er doch deutlich mehr als eine Stunde Fußmarsch. Allerdings bot er damals wie heute die einzige Möglichkeit, die Löschemer Kapelle mit Fahrzeugen zu erreichen. Früher nutzte man diese Wegstrecke im Frühjahr regelmäßig für die letzte der traditionell an drei aufeinander folgenden Tagen stattfindenden „Bittprozessionen“. Voran die Ministranten in ihren rotweißen Röcken, das Kreuz abwechselnd tragend, gefolgt vom Pastor im vollen Ornat, dahinter eine lange Reihe wallfahrender Teilnehmer, startete die Prozession frühmorgens um 6 Uhr an der Pfarrkirche und bewegte sich betend und singend den Berg hinauf bis zur Löschemer Kapelle, in der eine Marienandacht den Abschluss bildete.
Wer einen dieser drei Wege zur Löschemer Kapelle schon einmal begangen hat, kann leicht nachvollziehen, weshalb die Antragsteller in dem oben zitierten Bittschreiben zur Erlangung eines Kostenzuschusses darauf hingewiesen haben, dass die Kapelle auf „dem höchsten Bergpunkt der Umgebung“ stehe. Zwar ist der Liescher Berg keineswegs die höchste Erhebung hier, doch war es in der Tat recht beschwerlich, das notwendige Baumaterial und Handwerkszeug zur Kapelle zu schaffen. Als Frondienst leistender oder Freiwilliger musste man ja viele Male zu Fuß mit all diesen Dingen beladen den Berg hinauf- und wieder heruntersteigen. Ähnlich beschwerlich war es natürlich für die wallfahrenden Gläubigen, wenn sie denn einen der drei Wege von unten bis oben und wieder zurück zu Fuß zurücklegten. Eine „Wallfahrt nach Löschem“, wie man allgemein sagte, geriet da leicht zu einem echten Bußgang. Heutzutage macht man es sich in der Regel leichter, denn vom Parkplatz „Perfeist“ aus kann der „moderne Pilger“ die Löschemer Kapelle in einem bequemen Spaziergang nach 10 bis 15 Minuten Fußweg erreichen.
Text: Ferdinand Hein, Kulturzeugnisse am „Kultur- und Orchideenweg Wasserliesch“
Bilder: R. Schmidt